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Anforderungen für Elektronik-Dienstleister in der Bahnindustrie

Geschrieben von Hendrik Schnack | 25.11.2025 21:18:04

In der Bahnindustrie hat Sicherheit oberste Priorität – besonders bei der Entwicklung elektronischer Systeme, die für den Zugbetrieb und die Signaltechnik essenziell sind. Sichere Elektronik bedeutet nicht nur fehlerfreie Funktion, sondern auch zuverlässige Einhaltung strenger Standards und Normen. 

Entwicklungsprozess für Elektroniksysteme in der Bahn

Um als Dienstleister die Sicherheit für Kunden-Hardware- und Software im Bahn-Kontext zu gewährleisten sollte man einige grundlegende Aspekte beachten: einen normierten Entwicklungsprozess, eine klare Anforderungsstruktur, gründliche Validierungsmaßnahmen, spezielle Sicherheitsmethoden in der Hardwareentwicklung sowie das Bewusstsein für branchenspezifische Normen.

Ein standardisierter Entwicklungsprozess ist für Elektronikprojekte in der Bahnindustrie Pflicht – unabhängig vom angestrebten Safety Integrity Level (SIL). Das Safety Integrity Level (Sicherheits-Integritätslevel) gibt vor, wie zuverlässig sicherheitsrelevante Funktionen sein müssen, von SIL 1 bis SIL 4 (höchste Stufe). Grundsätzlich sollte man in jedem Projekt einem etablierten Prozess folgen, der an das V-Modell angelehnt ist. Das V-Modell ist ein Entwicklungsmodell, bei dem auf der linken Seite Anforderungen und Spezifikationen schrittweise vom Groben ins Detail verfeinert werden, während auf der rechten Seite passende Teststufen sicherstellen, dass jede Implementierung den vordefinierten Anforderungen genügt. Ausgehend von den Kundenanforderungen werden links die Spezifikationen immer weiter detailliert, bis eine Implementierung erfolgen kann. Jede Implementierung wird dann durch entsprechende Testschritte gegen die zuvor definierten Spezifikationen verifiziert. Dieses iterative Vorgehen stellt sicher, dass systematische Fehler frühzeitig erkannt und behoben werden.

Für sicherheitskritische (FuSi-) Projekte schreibt der Prozess zusätzliche Nachweise und Dokumentationen vor. Mit steigendem SIL erhöht sich der Aufwand: Es müssen mehr Maßnahmen zur Fehlervermeidung und Fehlerbeherrschung getroffen und umfangreichere Dokumentationen geführt werden. Beispielsweise verlangen höhere SIL-Stufen häufig unabhängige Reviews und Audits zu wichtigen Meilensteinen, um sicherzustellen, dass alle Sicherheitsanforderungen erfüllt sind. Insgesamt sollte man also von Beginn an einen normgerechten Entwicklungsablauf etablieren, der sowohl den branchenspezifischen Normen (z.B. der europäischen CENELEC-Normenreihe EN 5012x für Bahnanwendungen) als auch den Qualitätsmanagement-Standards genügt. Das Ergebnis ist ein reproduzierbarer Prozess, der für jedes Elektronikprojekt – unabhängig vom SIL – konsistente Qualität und Sicherheit liefert.

 

 

Validierung und Verifikation im Entwicklungszyklus

Die Validierung elektronischer Bahn-Systeme umfasst alle Maßnahmen, die sicherstellen, dass das entwickelte System die gestellten Anforderungen erfüllt und im realen Einsatz sicher funktioniert. Hierbei unterscheidet man mehrere Ebenen von Tests und Prüfungen entlang des V-Modells: Modultests, Integrationstests (Hardware-Software-Integration) und Systemtests bis hin zum Abnahmetest (Acceptance Test). Diese werden jeweils auf der rechten Seite des V-Modells den Spezifikationen der linken Seite zugeordnet.

In den frühen Phasen der Entwicklung – etwa bei Software-Modultests oder ersten Hardware-Prototypen – liegt der Schwerpunkt auf Verifikation, Code-Qualität und Coverage. Das heißt, man sollte sicherstellen, dass z.B. der Software-Code mittels Unit-Tests eine hohe Testabdeckung (Coverage) erreicht und kritische Pfade sowie Fehlerfälle gezielt geprüft werden. Auch statische Code-Prüfungen und Reviews gehören hier dazu. Im Hardware-Bereich werden frühzeitig Schaltungsteile auf ihre Funktion geprüft (z.B. mittels Simulation oder am Prüfstand), um maximale Fehlerabdeckung zu erreichen.

Mit zunehmender Integration verschiebt sich der Fokus hin zur Akzeptanz und Funktionalität. Auf Baugruppen- und Systemebene prüft man, ob alle Komponenten zusammen wie vorgesehen funktionieren (Integrationstest) und letztlich, ob das Gesamtsystem die ursprünglichen Kundenanforderungen erfüllt (Systemtest und Abnahme). Hier rücken funktionale Tests in den Vordergrund: Man simuliert reale Betriebsbedingungen, um zu validieren, dass das System sicher reagiert und allen Sicherheitsfunktionen zuverlässig nachkommt. Entscheidend ist ein gutes Verifikations- und Validierungskonzept, damit alle notwendigen Tests geplant, dokumentiert und lückenlos durchgeführt werden. Nur so gelangt man am Ende zu einem zertifizierbaren System, das seine Sicherheit und Funktion jederzeit nachweisen kann. Es empfiehlt sich, schon zu Projektbeginn eine detaillierte V&V-Planung zu erstellen, welche die Verantwortlichkeiten, Testmethoden (z.B. Black-Box-Tests, Fault-Injection-Tests) und Erfolgskriterien für jede Projektphase festlegt.

Validierungs- und Verifikationskette mit Fokus auf Coverage bzw. Acceptance

 

Safety-Hardware-Ansatz in der Entwicklung

Elektronische Komponenten in sicherheitsrelevanten Bahn-Anwendungen (z.B. Signalsteuerungen, Zugleittechnik) erfordern einen speziellen Safety-Hardware-Ansatz. Hierbei sollte man von Anfang an dedizierte Sicherheitsanalysen durchführen, um mögliche Risiken frühzeitig zu erkennen. In der Konzeptionsphase eines Projekts steht meist eine Gefährdungs- und Risikoanalyse (HARA, Hazard Analysis and Risk Assessment), bei der man alle potenziellen Gefahren identifiziert, die vom System ausgehen könnten. Auf Basis der HARA wird ein funktionales Sicherheitskonzept (Safety Concept) erstellt: Dieses legt Sicherheitsziele und -anforderungen fest, die das System einhalten muss, um Risiken zu beherrschen. Oft kommen hier Methoden wie FTA (Fault Tree Analysis, Fehlerbaumanalyse) zum Einsatz, um von einem möglichen Unfallereignis rückwärts alle Kombinationen von Fehlern zu ermitteln, die dazu führen könnten. So entsteht ein Bild der notwendigen Sicherheitsmechanismen und Architekturmaßnahmen (etwa Redundanzen, Überwachungen), um die Single Point of Failure zu eliminieren bzw. beherrschbar zu machen.

In der folgenden Design- und Implementierungsphase der Hardware führt man detaillierte Analysen wie FMEA (Failure Mode and Effects Analysis, Fehlermöglichkeits- und -einfluss-Analyse) durch. Eine FMEA untersucht systematisch jede denkbare Komponente und Fehlermöglichkeit auf ihre Auswirkungen – insbesondere im Hinblick auf die Sicherheit. Ziel ist es, Schwachstellen aufzudecken und das Design so anzupassen, dass keine einzelner Fehler zu einem unkontrollierten gefährlichen Zustand führen kann. Für quantitative Nachweise der Sicherheit wird häufig die Probabilistic Risk Assessment bemüht, insbesondere die Kennzahl PFH. Der PFH-Wert gibt die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit eines gefährlichen Ausfalls pro Stunde an (Probability of a Dangerous Failure per Hour) – er ist also ein Maß für die Zuverlässigkeit einer Sicherheitsfunktion. Auf Basis der Bauteil-Ausfallraten lässt sich ein erwarteter PFH-Wert für das Gesamtsystem berechnen. Dieser muss unter dem Grenzwert liegen, der für den angestrebten SIL gefordert ist. Sollte die berechnete Ausfallwahrscheinlichkeit die vorgeschriebenen Grenzen nicht einhalten, muss das Design überarbeitet werden, bis die Anforderungen erfüllt sind. In der Praxis bedeutet das oftmals mehrere Design- und Konzept-Reviews, bei denen unabhängige Experten das Hardware-Design prüfen. Man sollte also genügend Iterationen und Puffer in den Entwicklungsplan einbauen, um im Bedarfsfall Architektur oder Komponenten austauschen zu können. Erst wenn alle Analysen (HARA, FTA, FMEA etc.) und Berechnungen zeigen, dass die Sicherheitsziele erreicht sind, geht man in die Realisierungsphase über. Dieser frühe und iterative Safety-Ansatz stellt sicher, dass am Ende noch vor Produktionsstart alle nötigen Sicherheitsnachweise vorliegen und das System den strengen Bahn-Sicherheitsstandards genügt.

Iterativer Ansatz für das Engineering von Functional Safety Hardware

 

Normen-Sicht

In der Bahnindustrie bilden Normen wie EN 50126, EN 50129, EN 50155 und EN 50716 das Fundament für die Entwicklung sicherer und zuverlässiger Elektroniksysteme. EN 50126 definiert den übergeordneten RAMS-Prozess über den gesamten Lebenszyklus hinweg, während EN 50129 konkrete Anforderungen an den Sicherheitsnachweis elektronischer Systeme stellt. EN 50155 regelt die Umwelt- und Betriebsanforderungen für Elektronik an Bord von Schienenfahrzeugen und stellt so die Robustheit im realen Betrieb sicher. EN 50716 harmonisiert und modernisiert die Softwareentwicklung im Bahnkontext und integriert erstmals auch moderne Entwicklungsansätze wie agile Methoden. Zudem wird die zunehmende Relevanz von Cybersecurity betont, wobei ergänzend Spezifikationen wie TS 50701 herangezogen werden müssen. Zusammengenommen ermöglichen diese Normen eine strukturierte, nachvollziehbare und zukunftssichere Entwicklung bahntauglicher Elektroniklösungen.

Die Besonderheit in der Normensicht der Bahn ist dabei der definierte RAMS-Bezug. Die zentrale Norm EN 50126 legt diesen RAMS-Prozess für die Bahnbranche verbindlich fest. Sie fordert, dass Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit, Instandhaltbarkeit und Sicherheit für Bahn-Systeme in allen relevanten Lebenszyklusphasen systematisch spezifiziert und nachgewiesen werden. In der Praxis bedeutet dies beispielsweise, dass frühzeitig formale Risikoanalysen (etwa Gefährdungs- und Ausfallanalysen wie HAZOP oder FMEA) durchgeführt werden, um Schwachstellen und Gefahren zu bewerten. Anschließend wird die geforderte Zuverlässigkeit durch Berechnungen (z. B. Ausfallraten- und Verfügbarkeitsanalysen) und Tests nachgewiesen, sodass die vorgegebenen RAMS-Ziele erreicht werden. Für die Berechnung von Ausfallraten für die Elektronik sind auch theoretische Berechnungen möglich (FIT und FTA). Durch all diese Maßnahmen stellt der RAMS-Prozess sicher, dass Bahnsysteme zuverlässig und sicher betrieben werden können und gleichzeitig über den Lebenszyklus wirtschaftlich bleiben. 

 

BeSonderheiten der Bahnindustrie

Trotz klarer Prozesse und Methoden sieht man sich in Bahnprojekten mit einigen besonderen Herausforderungen konfrontiert, die es zu bewältigen gilt:

Hohe Komplexität und parallele Projekte: Bahnprojekte sind oft äußerst komplex und laufen parallel zueinander. Eine Vielzahl von Projekten – etwa Fahrzeugmodernisierung, neue Signalsysteme, Infrastruktur-Upgrades – bindet gleichzeitig Ressourcen. Man sollte daher eine gute Projekt- und Ressourcenplanung etablieren, um Übersicht zu bewahren. Die Komplexität erhöht auch den Kommunikationsaufwand zwischen Teams und erfordert ein striktes Konfigurationsmanagement, damit Sicherheitsanforderungen in allen Teilprojekten konsistent umgesetzt werden. Hinzu kommt, dass Ausschreibungen in der Bahnbranche zu stoßartiger Auslastung führen können: Gewinnt ein Unternehmen einen großen Auftrag, entsteht schlagartig hoher Entwicklungsaufwand, während zwischen solchen Projekten Phasen geringerer Auslastung liegen. Dieses unregelmäßige, stoßartige Geschäft stellt das Ressourcenmanagement vor weitere Herausforderungen – man sollte Puffer einplanen und flexibel agieren, um Belastungsspitzen abzufedern.

Regulatorischer Druck und Nachweispflicht: Die Bahnindustrie ist stark reguliert. Nationale und internationale Behörden verlangen detaillierte Nachweise dafür, dass alle Sicherheitsstandards eingehalten werden. Dies führt zu einem hohen Dokumentationsaufwand: Jede Anforderung, jeder Test und jede Designänderung muss nachvollziehbar dokumentiert und oft von unabhängiger Stelle abgenommen werden. Für Unternehmen bedeutet das einen erheblichen Aufwand in der Pflege von Sicherheitsnachweisen (z.B. Sicherheitsnachweis-Dokumente nach CENELEC-Normen) und in der Kommunikation mit Gutachtern oder Zulassungsstellen. Man sollte früh eine Compliance-Strategie entwickeln, um die notwendigen Zertifizierungen und behördlichen Freigaben effizient zu erreichen, ohne dass das Projekt ins Stocken gerät.

Ressourcenmangel und Fachkräftesituation: Fachkräfte für funktionale Sicherheit und Elektronikentwicklung sind gefragt und oft knapp. Bahnprojekte kämpfen regelmäßig mit chronischer Unterbesetzung spezialisierter Rollen – etwa Safety-Ingenieure, Testexperten oder RAMS-Manager. Gleichzeitig erfordern Sicherheitsprojekte viel Personal über lange Zeiträume, was zu Engpässen führt. Man sollte dem aktiv entgegenwirken, z.B. durch Weiterbildung bestehender Mitarbeiter, attraktive Bedingungen für Spezialisten und ggf. partnerschaftliche Modelle mit externen Experten. Zudem ist effizientes Multiprojekt-Management nötig, um die vorhandenen Fachleute optimal auf Projekte zu verteilen, ohne Qualitätseinbußen zu riskieren.

Obsoleszenzproblematik: Ein besonderes Problem in der Elektronik für die Bahn ist die Kurzlebigkeit vieler Bauteile im Vergleich zur Lebensdauer von Zügen oder Anlagen. Elektronische Komponenten (Mikrocontroller, Chips, Speicher) haben oft nur Produktlebenszyklen von wenigen Jahren, während Schienenfahrzeuge mehrere Jahrzehnte im Einsatz sind. Dadurch entsteht die Herausforderung, dass Bauteile schon obsolet (nicht mehr lieferbar) werden, lange bevor das System außer Betrieb geht. Man sollte deshalb frühzeitig eine Obsoleszenzstrategie einplanen: Zum einen Auswahl von Komponenten mit langer Verfügbarkeit oder second source; zum anderen gegebenenfalls rechtzeitige Last-Time-Buys (letzte Großeinkäufe von End-of-Life-Bauteilen) und die Einrichtung eines Ersatzteilpools. Zusätzlich muss der Altbestand verwaltet werden – etwa durch Bevorratung kritischer Komponenten und regelmäßige Überprüfung, welche Teile durch neue, kompatible Komponenten ersetzt werden könnten. Obsoleszenzmanagement ist ein kontinuierlicher Prozess über den gesamten Lebenszyklus eines Bahn-Elektroniksystems, der unerlässlich ist, um die sichere Betriebsbereitschaft über Jahrzehnte zu gewährleisten.

Fazit

Die Entwicklung sicherer Elektronik für die Bahnindustrie erfordert ein strukturiertes Vorgehen und viel fundiertes Know-how. Von der ersten Planung über die Spezifikationen bis hin zur Validierung und Zertifizierung muss man einen ganzheitlichen Safety-Ansatz verfolgen. Standardisierte Prozesse – gekoppelt mit diszipliniertem Anforderungsmanagement und gründlichen Tests – bilden das Rückgrat erfolgreicher Projekte. Ergänzend sichern spezielle Methoden wie HARA, FTA und FMEA die Hardware-Entwürfe gegen Risiken ab. Gleichzeitig darf man die branchentypischen Hürden wie begrenzte Ressourcen, strenge Regulatorik und technische Obsoleszenz nicht unterschätzen. Technisch versierte Entscheider im Bahnsektor sollten diese Aspekte stets im Blick haben. Man sollte proaktiv planen, Puffer für Sicherheitsthemen einbauen und ein Klima schaffen, in dem Qualität vor Termindruck geht. So lässt sich gewährleisten, dass elektronische Systeme in Bahnprojekten nicht nur funktional, sondern vor allem sicher und zuverlässig ihren Dienst tun – zum Schutz von Menschenleben und für einen reibungslosen Bahnverkehr.